Alltagswelt und Wahn

„Was geschieht aber, wenn die Trennungslinie zwischen normaler Alltagswelt und Wahn nicht so leicht zu ziehen wäre? Wenn das Normale eher selten, die Abweichung, das Pathologische aber verbreitet, vielleicht sogar die Regel wäre? Wenn der Wahn nicht nur in der harmlosen folie à deux Methode hätte? Wenn es den „common sense“ nicht geben würde, sondern nur einen örtlich und zeitlich begrenzten Sinn? Handlungen, die zu einer Zeit an einem Ort nicht nur erlaubt, sondern geradezu gefordert sind, können zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort verboten sein, ohne daß man objektiv feststellen könnte, die eine Lebenswelt sei „normaler“ als die andere. Vielleicht wäre es darum sinnvoller, die alltägliche Lebenswelt nicht als eine von anderen Lebensbereichen abgeschnittene Welt zu betrachten, die sogar noch über den anderen Lebensbereichen steht („paramount reality“), sondern als eine Welt, die durch alle möglichen, sich zeitlich. räumlich und sozial verändernde Faktoren bestimmt wird.“

Clausjürgens, Reinhold, Besprechung: Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, in: Soziologische Revue, 9. Jahrgang, 1986, Heft 1, p. 52