„Der Protestantismus hat nicht nur die bald einsetzenden Reformen der katholischen Kirche angestoßen, sondern allgemein eine den modernen Lebensbedingungen angepasste, nämlich reflektierte Form des religiösen Bewusstseins geprägt. In der Wendezeit der Reformation zeigt sich besonders deutlich, dass die theologischen Diskurse selbst zur treibenden Kraft im Prozess der Säkularisierung geworden sind. Die nichtintendierten Folgen der theologischen Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen und Lernprozesse erklärt, warum protestantische Motive – trotz der ursprünglichen Frontstellung gegen die Philosophie – auch in diese eindringen. Ironischerweise stößt gerade die theozentrische Lehre von der bedingungslosen Auslieferung des menschlichen Schicksals an Gottes undurchschaubares Erbarmen mit der entschlossenen Emanzipation des Glaubens von aller Metaphysik das Tor zu einer anthropozentrischen Wende der Philosophie auf – und wird damit zum Bahnbrecher nachmetaphysischen Denkens. In gewisser Weise beendet der Protestantismus das »Zeitalter des Weltbildes«.“ (II, p. 13f.) #Habermas #Protestantismus
Habermas: Der Protestantismus
Zitat
Habermas, Jürgen, Auch eine Geschichte der Philosophie: Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen – Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Berlin: Suhrkamp Verlag 2019. 1700 S., ISBN 978-3-518-58734-8.