“Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein, solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet. Der Ritus beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen. Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt – und so lange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung »ins Profane« harren.” (II, p. 807) #Habermas #SäkulareModerne
Archiv der Kategorie: Handlungstheorie
Habermas: Das Verständigungsparadigma
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„Wenn wir für einen Augenblick das Modell verständigungsorientierten Handelns, das ich an anderem Ort entwickelt habe, voraussetzen dürfen, ist jene objektivierende Einstellung, in der sich das erkennende Subjekt auf sich selbst ebenso wie auf Entitäten in der Welt richtet, nicht länger privilegiert. Im Verständigungsparadigma ist vielmehr grundlegend die performative Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die ihre Handlungspläne koordinieren, indem sie sich miteinander über etwas in der Welt verständigen. Indem Ego eine Sprechhandlung ausführt und Alter dazu Stellung nimmt, gehen beide eine interpersonale Beziehung ein. Diese ist durch das System der wechselseitig verschränkten Perspektiven von Sprechern, Hörern und aktuell unbeteiligten Anwesenden strukturiert. Dem entspricht auf grammatischer Ebene das System der Personalpronomina. Wer in dieses System eingeübt ist, hat gelernt, wie man in performativer Einstellung die Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Personen jeweils übernimmt und ineinander transformiert.“ (p. 346f.) #Habermas #Verständigungsparadigma #Handlung #Sprechhandlung
Habermas: Das Prinzip der Subjektivität
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„In der Moderne verwandeln sich also das religiöse Leben, Staat und Gesellschaft, sowie Wissenschaft, Moral und Kunst in ebensoviele Verkörperungen des Prinzips der Subjektivität. Deren Struktur wird als solche erfaßt in der Philosophie, nämlich als abstrakte Subjektivität in Descartes ›Cogito ergo sum‹, in der Gestalt des absoluten Selbstbewußtseins bei Kant. Es handelt sich um die Struktur der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts, das sich auf sich als Objekt zurückbeugt, um sich wie in einem Spiegelbild — eben »spekulativ« – zu ergreifen. Kant legt diesen reflexionsphilosophischen Ansatz seinen drei »Kritiken« zugrunde. Er setzt die Vernunft als den obersten Gerichtshof ein, vor dem sich rechtfertigen muß, was überhaupt auf Gültigkeit Anspruch erhebt.“ (p. 29) #Habermas #Subjektivität #Descartes #Kant #Vernunft
Habermas: Die Profanisierung der westlichen Kultur
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„Aber nicht nur die Profanisierung der westlichen Kultur, vor allem die Entwicklung moderner Gesellschaften hat Max Weber unter Gesichtspunkten der Rationalisierung beschrieben. Die neuen Gesellschaftsstrukturen sind durch die Ausdifferenzierung jener beiden funktional ineinandergreifenden Systeme geprägt, die sich um die organisatorischen Kerne des kapitalistischen Betriebs und des bürokratischen Staatsapparates herum kristallisiert haben. Diesen Vorgang versteht Weber als die Institutionalisierung eines zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns.“ (p. 9) #Habermas #Weber #Kultur #Gesellschaftsstrukturen
Habermas: Der Protestantismus
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„Der Protestantismus hat nicht nur die bald einsetzenden Reformen der katholischen Kirche angestoßen, sondern allgemein eine den modernen Lebensbedingungen angepasste, nämlich reflektierte Form des religiösen Bewusstseins geprägt. In der Wendezeit der Reformation zeigt sich besonders deutlich, dass die theologischen Diskurse selbst zur treibenden Kraft im Prozess der Säkularisierung geworden sind. Die nichtintendierten Folgen der theologischen Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen und Lernprozesse erklärt, warum protestantische Motive – trotz der ursprünglichen Frontstellung gegen die Philosophie – auch in diese eindringen. Ironischerweise stößt gerade die theozentrische Lehre von der bedingungslosen Auslieferung des menschlichen Schicksals an Gottes undurchschaubares Erbarmen mit der entschlossenen Emanzipation des Glaubens von aller Metaphysik das Tor zu einer anthropozentrischen Wende der Philosophie auf – und wird damit zum Bahnbrecher nachmetaphysischen Denkens. In gewisser Weise beendet der Protestantismus das »Zeitalter des Weltbildes«.“ (II, p. 13f.) #Habermas #Protestantismus